- Fr., 24.03. , 12:00 bis 12:15 Uhr
Gehirn und Biopolitik.
- Statement
Silvia Stoller, Philosophin, Universitäten Graz und Wien.
und
Martin G. Weiß, Assoz. Professor am Institut für Philosophie, Universität Klagenfurt.
- Teilnehmer*in
- Gehirn und Biopolitik
Silvia Stoller
Welche „Einblicke ins Gehirn“ (Simon Hippenmeyer) stehen uns eigentlich wirklich zur Verfügung? Welchen Zugang haben Menschen zu ihrem eigenen Gehirn? Wie erfahren wir Laiinnen und Laien so etwas wie ein „Gehirn“? Wenn überhaupt. Silvia Stoller geht diesen Fragen aus einer phänomenologischen Perspektive nach, das heißt aus der Perspektive einer Philosophie der Erfahrung. Sie erweitert damit den naturwissenschaftlichen Zugang mit einem lebensweltlichen Zugang. Daraus entstehen wieder viele neue Fragen. Eine der Fragen ist, wie wissenschaftliches und lebensweltliches Wissen aufeinander bezogen werden können.Silvia Stoller, ist Universitätsdozentin und lehrt an der Universität Wien (Gender Referat, Institut für Philosophie) sowie der Karl-Franzens-Universität Graz (Institut für Pädagogik und Erziehungswissenschaft). Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Phänomenologie, Geschlechterforschung, Masculinity Studies, Animal Studies, Körpertheorie, Posthumanismus sowie existenzielle Philosophie (Geschlecht, Alter, Liebe, Schmerz, Lachen, Spiel).
- Teilnehmer*in
- Gehirn und Biopolitik
Martin G. Weiß
Ob es sich um medizinethische Probleme oder die Organisation des Gesundheitswesens handelt, immer öfter wird heutzutage das menschliche Leben zum Gegenstand der Politik. Das war durchaus nicht immer so, zumindest, wenn man dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) Glauben schenken darf. Foucault zufolge ging es der Politik, bzw. dem Souverän, unabhängig davon, ob es sich um einen absolutistischen Herrscher oder eine demokratisch entscheidende Volksversammlung handelte, lange Zeit mehr um Landgewinn und die Organisation des öffentlichen Lebens, während die private Sphäre der Bürger und ihre biologischen Lebensfunktionen die Politik nicht interessierten. Im Laufe des 17. und vollends im 18. Jahrhundert beginnt sich der Staat dann plötzlich für das nackte Leben seiner Bürger zu interessieren. Staatliche Krankenhäuser und Irrenanstalten werden etabliert, Hygienevorschriften erlassen und die Fortpflanzung und Vermehrung der Staatsbürger zu einem primären Anliegen des Staates. Das Leben als solches wird zum Gegenstand und zur Ressource der Politik. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben (geb. 1942) geht davon aus, dass das nackte Leben immer schon den eigentlichen Gegenstand der Politik darstellte, denn Bürger eines Staates zu sein bedeutet, wie das bereits der Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) festgestellt hat, dem Souverän das Gewaltmonopol zuzugestehen und selbst auf jegliche Gewaltausübung zu verzichten. Das heißt aber auch, dass Staatsbürger zu sein bedeutet, dem Staat ausgeliefert zu sein, insofern der Souverän es ist, der die „Macht über Leben und Tod“ ausübt, wie es Foucault definiert. Dass ein wesentliches Merkmal der Politik in dieser Macht des Souveräns über das Leben seiner Bürger besteht, zeigt sich etwa in der Bestimmung der allgemeinen Wehrpflicht im Kriegsfall, der zumindest erwogenen Rechtfertigung von Folter oder der andiskutierten Möglichkeit, entführte Passagiermaschinen mitsamt der unschuldigen Passagiere abzuschießen, wenn damit „Schlimmeres“ verhütet werden könnte. An all diesen Beispielen wird deutlich, dass der Staat, „gegründet um des Überlebens willen“ und „bestehend um des guten Lebens willen“, wie es bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) heißt, immer auch eine dunkle Seite hat, denn die schützende Macht über das Leben beinhaltet immer auch die Erlaubnis zu töten. Freilich bleibt mit Agamben zu hoffen, dass es eine Alternative zu dieser auf der Idee der Souveränität gründenden Politik gibt. Wie dieses Gemeinwesen jenseits staatlicher Strukturen aussehen soll, bleibt allerdings ein Aspekt, den auch Agamben im Dunkeln belässt.Martin G. Weiß, Assoz. Professor und Vorstand des Instituts für Philosophie der Universität Klagenfurt. Studium der Philosophie, Germanistik und Italianistik an der Universität Wien. Danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm in Berlin, am Institut für Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Stipendiat des Centro per gli Studi Religiosi in Trient, des Nietzsche-Kollegs in Weimar, der Forschungsplattform Life-Science-Governance der Universität Wien und Visiting Scholar am Rhetoric Department der UC Berkeley. Leiter Forschungsprojektes Ethical Aspects of DNA-Analysis for Family Reunification in Austria, Finland and Germany. Forschungsschwerpunkte: Bioethik, Biopolitik, italienische Philosophie, Phänomenologie. Publikationen (Auswahl): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. v. M. G. Weiß. Frankfurt/M. Suhrkamp 2009; Gianni Vattimo. Einführung. 3. Auflage. Wien Passagen 2012; An der Grenze. Die biotechnologische Überwachung von Migration. Hg. v. T. Heinemann & M. G. Weiß. Frankfurt/M. 2016; Vom Existentialismus zum Nationalsozialismus? Martin Heideggers Denken nach den Schwarzen Heften. In: Geschichte und Gegenwart der Existenzphilosophie. Hg. v. D. Sölch. Basel 2021, 160-180.